Philosophie der Ambulanz
Der Begriff der Ambulanz oder des ambulanten Denkens, wie wir ihn verwenden, geht auf Arbeiten des Philosophen Gilles Deleuze (1925-1995) und des Psychiaters Félix Guattari (1930-1992) zurück. Seit dem Ende der 60er Jahre haben beide Autoren an dem Projekt „Kapitalismus und Schizophrenie“ gearbeitet und die Geschichte sowie die Entwicklungslinien des modernen Kapitalismus analysiert. Besonderes Gewicht kommt in ihren Untersuchungen (z.B. „Anti-Ödipus“, 1972; „Tausend Plateaus“ 1980; „Was ist Philosophie?“, 1991) neben den Bereichen Politik, Kunst und Literatur dem Bereich Wissenschaft zu.
Für Deleuze und Guattari gibt es, quer zur Wissenschaftsgeschichte, zwei Wissenschaftsmodelle: die reproduktive und die ambulante Wissenschaft, die Königswissenschaft und die nomadische Wissenschaft. In ihrem letzten gemeinsamen Werk „Was ist Philosophie?“ kehrt diese Unterscheidung wieder in der Gegenüberstellung von funktionaler Wissenschaft und begriffsorientierter Philosophie: Ein chaotischer Zustand ist für die Wissenschaft eine Funktion, für die ambulante Wissenschaft (Philosophie) ein Zustand, in dem sich mit unendlicher Geschwindigkeit Formen auflösen. Die reproduktive (oder: funktionsorientierte) Wissenschaft arbeitet mit deduktiven und induktiven Verfahren im Hinblick auf die Formulierung von Funktionen. Die ambulante (oder: ereignisorientierte) Wissenschaft arbeitet abduktiv im Hinblick auf Begriffe, die wie Eigennamen sind. „Man stellt nicht dar und stellt sich nicht etwas vor, sondern man erzeugt und durchläuft etwas.“ (dies., Tausend Plateaus, Berlin 1992, 500f.) „In seinem gesamten Werk stellt Bergson dem wissenschaftlichen Beobachter die philosophische Person gegenüber, die die Dauer durchläuft.“ (dies., Was ist Philosophie, Frankfurt am Main 1996, 154)
Die ambulante Wissenschaft findet sich z.B. in der Arbeit der umherziehenden Schmiede und mittelalterlichen Baumeister, bei den Brückenbauern des 18. Jahrhunderts, aber auch bei solch praktischen Menschen wie Lehrern, Juristen, Medizinern. Sie ist eine Proto-Wissenschaft (Husserl spricht von Proto-Geometrie), nicht im Sinne einer Vor-Wissenschaft, sondern einer Wissenschaft der Möglichkeiten und Ereignisse: „Man ist nicht in der Welt, man wird mit der Welt, man wird in ihrer Betrachtung.“ Ein Grundbegriff zur Analyse solcher Möglichkeiten und Ereignisse ist der der Karte statt z.B. der des Systems. „Jedes Werk umschließt eine Vielheit von Wegstrecken, die nur auf einer Karte lesbar sind und koexistieren, und es ändert seine Sinnrichtung je nach dem, welche davon beibehalten werden.“ (Deleuze, Kritik und Klinik, Frankfurt am Main 2000, S. 92) Anders auch als in der Diskursanalyse Foucaults handelt es sich nicht um eine Archäologie des Wissens (um die Entstehung von Diskursen wie den der modernen Rechtssprechung oder Medizin), sondern um eine Kartographie des Wissens im Hinblick auf seine Möglichkeiten: Welche Wissensformen koexistieren, welche Erinnerungen tauchen gleichzeitig auf, welche werden aktualisiert? „Von Karte zu Karte handelt es sich nicht um die Suche nach einem Ursprung, sondern um die Bewertung von Verschiebungen.“ (ders., Kritik und Klinik, a.a.O., 88)
Der ambulante Wissenschaftler ist ein Möglichkeitsmensch (Robert Musil), der Humor genug hat, um Instabilität, Kontingenz, Ereignisse und offene Entwicklungen in die Formulierung eines Begriffs und einer Theorie zu überführen (s. dazu aus praktischer Erfahrung: Mony Elkaim, Isabelle Stengers, Über die Heirat der Heterogene, in: H. Schmidgen (Hg.) Ästhetik und Maschinismus Texte zu und von Félix Guattari, Berlin 1995, S. 65-94). Der Begriff der Ambulanz, des ambulanten Denkens berührt sich in diesem Sinne mit Entwicklungen im Bereich der deutschen oder angloamerikanischen Hermeneutik (z.B. Grounded Theory).
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